ZEITARM

ZEITARM

„Machst du auch mal was langsam?“
„Wie meinst du das?“
„Ich höre in beinah jedem Satz von dir ‚SCHNELL‘.
Ich flitze mal schnell zum Bäcker.
Ich spül’ schnell das Geschirr.
Ich schreib das noch schnell zu Ende.
Also.
Machst du auch mal was langsam?“

Diese Frage hat mich aus der Bahn geworfen.
Machte ich denn irgendwas langsam?
Auf die Schnelle habe ich nichts gefunden.
Das hat mir Angst gemacht.
Ich habe mich beobachtet.
Bereits am Morgen stand ich schnell auf, jagte förmlich aus dem Bett.
Ich schüttete Tee in den Schlund meines Halses, so als wäre ich monatelang durch Wüsten gewandert.
Ich raste durch die Straßen, als ginge ich auf heißen Kohlen.
Ich las, redete, wünschte, atmete und dachte in Blitzgeschwindigkeit.
Das Fazit:
Die Hälfte ging an mir vorbei ohne haften zu bleiben.
Nur das Wichtige klebte an mir.
Das Notwendige, Unausweichliche, Bedingte.
Ich zog die Notbremse und blieb erst einmal stehen.
Stumm. In mich lauschend.
Das fühlte sich gut an.
Stehenbleiben auf Dauer kam trotzdem nicht in Frage.
Langsam, nicht schnell, versuchte ich meinen eigenen Rhythmus zu finden.
Das war und ist nicht leicht.
Ganz und gar nicht.
So schnell will er sich nämlich nicht finden lassen.
Der Rhythmus meiner Zeit.
Außerdem kam nun noch ein ganz anderes Problem auf mich zu.
Wenn du dich langsam, bewusst und allumfassend durch den Alltag kämpfst, bewegt sich alles andere und bewegen sich alle anderen in Atem stockender Lichtgeschwindigkeit UND DAS NERVT!
Die meisten von uns, du.. du.. Sie.. Ihr.. wir.. sind zeitarm.
Beweise?

Ich sitze auf meinem alten Drahtesel und radel im Fluß des Straßenverkehrs zu meinem nächsten Termin. An der Ampel bleibe ich stehen, stelle aber fest, dass alle weiterfahren. Sie düsen an mir mit einer Selbstverständlichkeit vorbei, dass mich das Gefühl ereilt, das rote Ampelmännchen mir gegenüber sprühe vor Wut Feuerfunken.
Nur wenige Sekunden später starte auch ich los.
Es ist grün.
Auf meiner Weiterfahrt überhole ich den einen oder anderen Rotfahrer und frage mich, was sie gewonnen haben.
Zeit?
Vielleicht in ihrem Universum.
Da will ICH nie wieder sein.

Als ich mich mit einem heißen Kaffeebecher auf den Weg zu einer Freundin mache, möchte ich am liebsten das Handy in das nächste Gully-Loch fallen lassen. Sie übertönt meine erklärenden Worte mit einem gehetzten, bejahenden aber nicht zuhörenden, dafür antreibenden Aha.. aha.. aha.. ahaaa.
Ich sehe sie in Gedanken vor mir.
Sie steht in der Küche und starrt auf die große Uhr über dem Herd.
Der Sekundenzeiger dreht sich unaufhörlich.
Zappelt und zuckt.

Trotz ihrer Ungeduld, halte ich durch und komme zum Ende meiner Erklärung.
„Hast du verstanden, was ich dir vorschlage?“
Nicht mal ich bin mir noch sicher, was ich da eigentlich erzählt habe.
„Jaja. Komm einfach erstmal zu mir.“
JA JA.
Da wo ich groß geworden bin, sagt man gleich „Leck mich am Ar…!“
Ich weiß.
Sie meint es nicht so.
Auch sie ist zeitarm.
Zwischen ihren Fingern verrinnen die Stunden, Minuten und Sekunden des Tages förmlich in nur einem Augenblick, wie der Seifenschaum, der beim Händewaschen durch das klare Wasser weggespült wird.
Es scheint so, als habe die Welt eine neue Krankheit, die noch unentdeckt ist.
Wir sind von einem Virus infiziert worden, dass unsere Zeit angreift und scheinbar vor unseren Augen zersetzt.
Es ist nicht tödlich.
Aber schädlich.
Die Dimensionen sind erschreckend.
Selbst das Beantworten einer Email wird zum geistigen und körperlichen Supergau.
Freunde, Bekannte, Kollegen und Familie schaffen es scheinbar nicht einmal mehr auch nur einen Klick auf eine Webseite zu vollbringen.
Dabei dauert das nicht mal eine Sekunde.
Noch schlimmer sieht es mit der Zeit aus, um die wir sie bitten.
Etwas zu lesen.
Sich für etwas zu engagieren.
Unterstützung zu leisten.
Über etwas nachzudenken.
ABGELEHNT!!!
Die Zeit ist bereits verbraucht.
Benötigt.
Verplant.
Gespart.
Verbucht.
Alle haben so zu viel zu tun und das am Besten SCHNELL.

2 thoughts on “ZEITARM

  1. Schnell wird auch unsere Erde zugrunde gehen wenn wir nur schnell genug sind sie zu zerstören. Schneller als wir denken können werden wir uns fragen, ob Schnelligkeit
    überhaupt Sinn macht. Wer schnell denkt wird sicher schnell denken das Schnelligkeit nur relativ ist.

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